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Das Alltagsleben jüdischer Gemeinden in der arabischen Welt war über Jahrhunderte von einer komplexen Balance zwischen religiöser Identität und kultureller Integration geprägt. Historische Dokumente und ethnographische Zeugnisse zeigen ein tägliches Zusammenleben, das stark von lokalen Gegebenheiten bestimmt wurde. Die materielle Kultur jüdischer Gemeinden zeigt die tiefgreifende Verflechtung mit der muslimischen Gesellschaft. Kunsthandwerk, Textilien und Alltagsgegenstände offenbaren gemeinsame ästhetische Formen, die kulturelle Grenzen überschritten. Selbst religiöse Objekte wie Thoraschreine adaptierten lokale Stilelemente, während sie ihre rituellen Funktionen bewahrten. In den meisten Ländern gab es im Mittelalter keine explizit jüdischen Viertel, die jüdische Bevölkerung lebte über das gesamte Stadtgebiet verstreut. In der Neuzeit entstanden diese aber und das Leben dort war geprägt von räumlicher Konzentration. Diese Viertel bildeten religiöse und soziale Zentren mit eigenen Synagogen, Schulen und rituellen Bädern, blieben jedoch durchlässig für tägliche Geschäfte und Handelsbeziehungen. Jüdische Handwerker arbeiteten oft in der Medina, während sie abends in ihre Wohnviertel zurückkehrten. Die Architektur der Häuser – zentrale Innenhöfe mit Empfangsräumen und Familienräumen – unterschied sich nicht von muslimischen oder christlichen Nachbarhäusern derselben sozialen Schicht. Der Alltag folgte den ineinandergreifenden Rhythmen der Halakha, des jüdischen Rechts, und des islamischen Kalenders. Shabbat-Vorbereitungen begannen bereits donnerstags und intensivierten sich freitags mit Kochen, Putzen und dem Anzünden der Kerzen vor Sonnenuntergang. Muslimische Feiertage und Kalenderzeiten wie Ramadan bestimmten die Marktzeiten und die Geschäftsschließungen. Diese zeitlichen Anpassungen schufen ein System gegenseitiger Rücksichtnahme: jüdische Metzger verkauften zum Verzehr geeignetes Fleisch an muslimische Kunden, während muslimische Bäcker matzah für Pessach herstellten. Hochzeitsfeiern spiegelten diese kulturelle Synthese besonders eindrucksvoll wider: Der Henna-Abend, bei dem Hände und Füße der Braut mit Henna bemalt wurden, kombinierte jüdische religiöse Symbolik mit regional verbreiteten Schutz- und Segensritualen. Die Begleitmusik integrierte arabische Tonarten und Rhythmen in die jüdische liturgische Tradition. Kleidung und Schmuck dokumentierten die religiöse Zugehörigkeit und lokale Integration: Silberfibeln und Amulette kombinierten Symbole wie die Hamsa sowie mit weiteren lokalen Schutz- und Segenszeichen. Mit dem Kolonialismus gelangten christlich-europäische antijüdische Stereotype erstmals in muslimische Länder. Die gewachsenen Strukturen wurden tiefgreifend verändert. Die materielle Kultur dieser verschwundenen Lebenswelten – von Haushaltsgegenständen bis zu Festtagspraktiken – ermöglicht heute ein differenziertes Verständnis jenseits politischer Vereinfachungen und verdeutlicht sowohl die Möglichkeiten als auch die Fragilität kultureller Koexistenz.
(Text: Marina Shcherbakova, Gregor Schwarb, Ronny Vollandt)